Was machte die NATO vor 25 Jahren aus?

Vor einem Vierteljahrhundert – im sogenannten Kalten Krieg – standen sich zwei Paktsysteme gegenüber, die sich im Sinne der nuklearen Abschreckung mehrfach gegenseitig auslöschen konnten. Unter diesem strategischen Patt arbeitete die NATO an einer konventionellen Abschreckung, die eine rasche Eskalation in nukleare Dimensionen verhindern, zumindest verlangsamen sollte. Sie war von drei Elementen geprägt war:

-     Integrierte NATO-Kommandostruktur

-     Gemeinsame Luftverteidigung (bereits im Frieden)  und

-     der „Schichttorte“, gebildet aus Heereskorps, die von fast allen NATO-Partnern ausgerüstet und

      ausgebildet waren und der NATO unterstellt waren.

Die „Schichttorte“ an der östlichen Außengrenze des NATO-Territoriums wurde durch weitere Armeekorps aus Großbritannien, Frankreich und den USA verstärkt, die im Falle der Krise hinter der östlichen Aufmarschzone als Reserve bereitgehalten werden sollten. Die US-amerikanischen Reservedivisionen sollten damals über Flughäfen in Deutschland eingeflogen werden (Return of Forces to Germany; Reforger), ihr vorausstationiertes Großgerät aus Depots in Deutschland übernehmen (POMCUS: Prepositioning of Material from Continental USA) und in vorerkundete Bereitstellungsräume verlegen. Die Amerikanischen Truppenverbände sollten durch sechs deutsche Reservebrigaden versorgt werden, die aus Bundeswehrreservisten aufgestellt wurden (Wartime Host Nation Support WHNS).

Was machte die NATO vor 25 Jahren?

Nach der Selbstauflösung der Sowjetunion startete die NATO einen Erweiterungsprozess, in dem nach und nach Staaten aus Ost-Mitteleuropa, Südosteuropa und Nordosteuropa Mitglied des Militärbündnisses wurden. Die Politik in Europa „fühlte sich nur noch von Freunden umgeben“ und realisierte damals die „Friedensdividende“. - Zugleich begann die NATO, sich auf Einsätze „out of area“ einzustellen, zuallererst um die Konflikte im Jugoslawien nach Tito zu befrieden. Nach dem so auch bezeichneten Bündnisfall ab dem 11. September 2001 agierte die NATO im Wesentlichen „out of area“, d.h. mit Krisenreaktionsstreitkräften.

Was gilt unverändert in der NATO?

Unverändert gilt der Washingtoner Vertrag, insbesondere die Bündnisverpflichtung nach Artikel V zur Wahrung bzw. Wiedergewinnung zur territorialen Integrität aller NATO-Staaten. Gleichzeitig bestehen die Verpflichtungen zur gemeinsamen Konsultation und Risikobeurteilung nach Artikel IV. Und schließlich gilt das immer wieder bekräftigte Ziel des Einsatzes von 2% des Bruttosozialproduktes jedes einzelnen NATO-Staates für Zwecke der Verteidigung.

Überblickt man die Geschichte des Bündnisses, so sind mehrere Phasen zu erkennen, wobei die eine Phase nicht geendet haben muss, wenn eine neue Phase beginnt. Insofern ist die konventionelle Abschreckung, der gemeinsame Einsatz „out of area“ und (vielleicht) der Start einer neuen Phase parallel zu betrachten.

Was hat die Krim-Annexion und die Ukraine-Krise 2014 verändert?

Beginnend mit dem Georgienkrieg 2008 wächst in den einzelnen NATO-Ländern die Sorge, dass die Veränderungen in Russland, insbesondere die russische Streitkräfte-Reform, zu einer neuen Risikolage führen und insoweit zu einer veränderten Lagebewertung innerhalb des Bündnis führen müssen; denn:   

Erstens hat der Vertragspartner der NATO, die osteuropäische Macht Russland, Verträge mit der NATO bzw. einzelnen NATO-Staaten gebrochen. Als Beispiele seien zum einen das Budapester Abkommen zur Denuklearisierung der Ukraine angeführt, zum anderen auf den gebrochenen OSZE-Vertrag mit der Folge der Krim-Annexion durch Russland verwiesen.

Zweitens hat die inzwischen mehrfach unter Beweis gestellte Putin-Doktrin („Russland schützt seine Staatsbürger überall, auch wenn diese Minderheiten in anderen Nationalstaaten sind“) den Auftritt und das Verhalten Russlands verändert.

Drittens ist spätestens in der Ukraine-Krise eine neuartige hybride Kriegsführung zu beobachten, die sich aus Propagandaaktionen (alt), einer konventionellen Drohkulisse jenseits der NATO-Grenzen (neu) und dem Auftreten von „grünen Männchen“ (neu) zusammensetzt. Noch betrifft diese Art von Aktionen nur die Außengrenze der Ukraine. Aber der von Russland politisch initiierte Separatismus ist beispielsweise auch in Teilen Estlands und Lettlands möglich, womit NATO-Staaten betroffen wären.

Seit der Krim-Annexion hat der NATO-Ministerrat beginnend im Februar 2014 erste gemeinsame Reaktionen der NATO beschlossen:

-     intensiviertes „air policing“ in Nordosteuropa zum Schutz des Luftraums der drei baltischen Staaten

-     eine zusätzliche Minenabwehrübung von NATO-Ostsee-Anrainern Mitte dieses Jahres

-     Ausbau MNCNE - die drei NATO-Staaten Dänemark Polen und Deutschland, die das multinationale

      Korps Nordost MNCNE in Stettin alimentieren, bauen den Stab von einem FHQ (‚lower‘ readyness)

      zu einem doppelt so starken FHQ (‚higher‘ readyness) aus, auch um Eventualplanungen

      (‚contingency plans‘) zu intensivieren

-    Durchführung einzelner bilaterale Trainings-Maßnahmen der USA und Großbritanniens 2014 mit

      Anzeige gegenüber dem Joint Forces Command Brunssum.

Alle diese Maßnahmen sollen den sich bedroht fühlenden NATO-Staaten mit östlicher Außengrenze die politisch-psychologische Rückversicherung durch die NATO-Verbündeten zeigen (‚Re-assurance‘).

Was kann und muss der NATO-Gipfel im September 2014 beschließen?

Erstens ist der begonnene bilaterale Übungsbetrieb unter einem „NATO-Dach“ zu verstetigen, nachdem alle Entscheidungen aus dem Februar bislang mit Jahresende 2014 enden sollen.

Zweitens ist der militärischen Kommandostruktur ein Auftrag zu erteilen, multi-nationalen Hauptquartieren unterhalb der Joint Forces Commands in Brunssum und Neapel neue und aktualisierte Schwerpunkte zuzuweisen. Dies sollte die Aktualisierung von NATO „contingency plans“ für die Außengrenzen der NATO umfassen, beispielsweise ein Auftrag an das MNCNE Stettin zur verbesserten Verzahnung von nationalen Verteidigungsplänen der baltischen Staaten mit Vorbereitungen der NATO. Diese Planungen müssen zuvorderst die NATO Response Force (NRF) als Zeichen der bündnis-gemeinsamen Verteidigungsbereitschaft umfassen und deren mittelfristigen Übungsbetrieb bestimmen.

Drittens ist ein Auftrag an die NATO-Strukturen zu erteilen, im Lichte der neuen Bedrohungen ein gemeinsames Verständnis zur „territorial defense“ zu entwickeln, also eine (neue) NATO-Doktrin. Diese muss folgende Elemente einschließen:

-   ‚Joint‘ Planungen (wenn auch meist ‚land heavy‘) für NRF der NATO-Armeen

-    Erhöhung der maritime Präsenz in regional bedeutsamen Gewässern

-    Planungen zu voraus zu stationierende Luftverteidigungssysteme zum Schutz von NATO-Territorium

-    Planungen für den Einsatz von Luftstreitkräften (von Forward Operating Bases) zum Vertrautwerden

      mit regionalen Besonderheiten

-    Überlegungen zur Vorausstationierung von Material sowie Ertüchtigung von APODs/SPODs im

      Rahmen von Host Nation Support

-    Schnittstellengestaltung zwischen NATO - Verstärkungsstreitkräften und nationalen territorial

     verantwortlichen Truppenteilen (inklusive einer aufzubauenden Verbindungsorganisation)

Schlussbemerkung

Geschichte wiederholt sich bekanntlich nicht, aber ein Blick in die erfolgreiche NATO-Abschreckung gibt Hinweise für die zukünftigen Herausforderungen. Freie Gesellschaften, deren Politiker, Wissenschaftler und Militärs haben die vor 25 Jahren überwundene Blockkonfrontation vielleicht nicht selbst bewusst miterlebt, aber die seit der Krimannexion im Osten des NATO-Gebiets durch die Bevölkerung wahrgenommene neue Bedrohung erfordert neue Antworten, zumindest ein Wiederanknüpfen an alte Erfahrungen. Insoweit ist territoriale Verteidigung nicht (mehr) altmodisch und überholt, sondern vielmehr unerhört aktuell: Wachsamkeit ist der Preis der Freiheit!

Der Autor ist Oberst d.R. und Vizepräsident der GfW

 

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