Belarus - Brücke zwischen Ost und West
Ein Land im Schatten Moskaus
auf der Suche nach seiner Identität
Botschafter stellt bei der Sektion Bad Kissingen sein unbekanntes Land vor
Erstmals war es der hiesigen Sektion der Gesellschaft für Wehr- und Sicherheitspolitik (GfW) gelungen, einen Botschafter für einen Vortrag in die Kurstadt zu holen. Bisher hatten nur Generalkonsuln oder Gesandte ihre Länder im Rahmen der Vortragsreihe „Unsere Europäischen Nachbarn“ vorgestellt. Überraschend groß war das Interesse an dieser Veranstaltung, so dass Stellvertretender Sektionsleiter Ulrich Feldmann über 90 Zuhörer, darunter auch einige regionale „Politprominenz“, im Festsaal des Parkwohnstifts begrüßen konnte. Als durchaus treffend fand Botschafter Andrei Giro Feldmanns einleitende Worte über das „schwarze Loch“ in der allgemeinen Wahrnehmung und der überwiegend negativen Berichterstattung über seine Heimat in Westeuropa.
Viel Prominenz beim Vortrag des Belarus-Botschafters S.E. Andrei Giro
( vlnr. U. Feldmann, Stellv. Sektionsleiter der GfW, OTL J. Schmer, Infanterieschule Hammelburg,
Oberst P. Schütz, Leiter Gefechtssimulationszentrum Wildflecken, Kulturattache´ Yulia IIyina,
Stellv. BezTagsPräs K. Renner, Stellv. Vors Europa-Union S. Balonier-Werner, 2.BM Prof. Dr. P. Deeg
MdL R. Kiesel, S.E. Botschafter A. Giro, Stellv. Landrat E. Müller)
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Ein Land mit europäischen Wurzeln
Nach einem einleitenden Film, gezeigt von Kulturattache´ Frau Yulia Ilyina, ließ Botschafter Giro - übrigens in lupenreinem Deutsch - zunächst die wechselvolle Geschichte seines Landes Revue passieren. Nach der ersten Staatsgründung um 1000 n. Chr. schlossen sich die belarussischen Fürsten im 13. Jahrhundert zunächst mit dem Fürstentum Kiew (heute Hauptstadt der Ukraine, aber damals die „Wiege Russlands“) sowie einigen russischen Territorien zu einem Staatenbund zusammen.
Im 14.Jahrhundert wuchs dieser Staat nach der Vereinigung mit Litauen und schließlich im Jahre 1520 mit Polen zu einem der größten Staaten Europas der frühen Neuzeit heran, der von der Ostsee bis zum Schwarzen Meer reichte. Die Westorientierung dieses Großreichs war geprägt von intensiven Handelbeziehungen mit den deutschen Fürstentümern und der Hanse. Selbst das „Magdeburger Recht“ wurde bereits um 1500 als Grundlage der Gesetzgebung und des Prinzips der Selbstverwaltung der Städte übernommen.
Von Moskau war damals noch nicht die Rede. Nach mehreren verheerenden Kriegen um die Selbständigkeit und den „3 Teilungen“ Polens geriet Belarus dann am Ende des 18.Jahrhunderts unter die Herrschaft des Zarenreichs. Nach dem I.WK wurde Belarus zunächst von Polen annektiert, war 1922 dann aber einer der 5 Gründerstaaten der UdSSR, allerdings ohne seine Westgebiete, die durch den Vertrag von Riga bis 1939 an Polen fielen.
Eine gut besuchte Veranstaltung
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Wieder auferstanden aus Ruinen- durch Solidarität der Sowjetvölker
Verheerende Folgen hatte der Zweite Weltkrieg für das Land: Durch die erbitterten Kämpfe und Verwüstungen, vor allem aber den Nazi-Besatzungsterror verlor jeder 4. Einwohner sein Leben, 90% der Städte wurden in Schutt und Asche gelegt, die gesamte Industrie und Landwirtschaft war bei Kriegsende vollkommen zerstört. Nur durch ein gigantisches Wiederaufbauprogramm mit Hilfe der Solidarität vieler Staaten der UdSSR gelang es, aus Belarus wieder einen funktionierenden Staat zu errichten. Wie in allen Sowjet-Republiken wurde im Rahmen des zentralen Wirtschaftsplans auch Belarus eine bestimmte Rolle zugewiesen: „Montagehalle der SU“. Das bedeutete: Aufbau einer großen Stahl- und Schwerindustrie zur Produktion von Radkippern und Traktoren. Was kaum bekannt ist: dank dieser „brüderlichen“ Aufbauhilfe ist das kleine Belarus heute auf dem Weltmarkt führend mit 30% der Produktion von Groß-Kippern und stellt 8% aller Traktoren her. Außerdem kommen 9% der Weltproduktion an Leinfasern und 11% von Kali von hier. Nach der Auflösung der Sowjetunion trat Belarus der „Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS), einem freiwilligen Zusammenschluss ehemaliger Sowjetrepubliken, bei.
Die Katastrophe von Tschernobyl
Kaum hatte sich das Land einigermaßen von den Schäden des Zweiten Weltkriegs erholt, folgte die nächste Katastrophe: 1986 explodierte in einem Super-Gau der ukrainische Reaktor von Tschernobyl, nur 40 km entfernt von der Südgrenze von Belarus. Im Gegensatz zu den Atombomben von Hiroshima und Nagasaki mit hoher Strahlung und kurzer Halbwertzeit ist die Strahlung des hier freigesetzten Cäsiums 135 niedrig, die Halbwertzeit beträgt jedoch ca. 70 Jahre! Die Folgen sind schwerwiegend: 23% des Staatsgebiets wurden durch den radioaktiven Fallout verseucht, 20% der landwirtschaftlich nutzbaren Fläche sowie 350 Industrieanlagen gingen verloren und 130 Minerallagerstätten können nicht mehr genutzt werden.
Viel schlimmer sind die Auswirkungen jedoch für die Bewohner dieser Gebiete: 1,3 Millionen Menschen wohnen weiterhin in den betroffenen Gebieten, die Erkrankung an Schilddrüsenkrebs ist bei Kindern um das 40-fache und bei Erwachsenen um das 7-fache gestiegen. Ebenso gravierend sind die finanziellen Schäden: sie werden auf 235 Mrd. US $ geschätzt, bei jährlich nur 100 Mill. US $ Hilfe aus dem Ausland. Vor allem die Behandlung der erkrankten Kinder hat Priorität: jährlich können sich 120.000 Kinder in Rehabilitations-Einrichtungen im In-und Ausland erholen. Botschafter Giro sprach den deutschen Hilfsorganisationen und -initiativen besonderen Dank dafür aus, dass über 5.500 Kinder jedes Jahr hier zur Erholung und ärztlichen Behandlung kommen können, meinte aber gleichzeitig, dies reiche noch lange nicht aus.
vlnr. S.E. Belarus-Botschafter A. Giro, Kulturattaché Y. IIyina, Stellv. Sektionsleiter U. Feldmann
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Der eigene erfolgreiche Weg zwischen West und Ost
Nun ging der Botschafter auf die Besonderheiten der Entwicklung seines Landes nach dem Zerfall der Sowjetunion ein: „Natürlich sind wir als ehemalige Montagehalle ein Produkt des Sowjetsystems und sind mit Russland wegen vieler Gemeinsamkeiten und Abhängigkeiten verbunden, aber wir sind 1990 nicht den Weg Jelzins gefolgt, der mit Ausverkauf des Volkseigentums und Verarmung der Menschen in völligem wirtschaftlichem Chaos endete“, so der Botschafter. Das behutsame Vorgehen bei der Privatisierung habe sein Land vor dem Kollaps bewahrt und ihm in den letzten Jahren einen jährlichen Zuwachs des Bruttoinlandprodukts von über 10% und des Außenhandels allein in den ersten 8 Monaten diese Jahres von 16% verschafft. Stolz zitierte er die Position seines Landes im sogenannten Weltbank-Rating, dessen Stellenwert darüber Auskunft gibt, in welchem Land man investieren sollte. Von Platz 181 im Jahr 2007 sei man jetzt bereits auf Platz 30 und belege von allen GUS-Staaten bereits Platz 1. Während Belarus 1980 noch 80% seiner Produkte nach Russland exportierte, seien dies jetzt nur noch 21%, gleichzeitig sei der Export in die EU auf 33 % gestiegen. 22% des Exports in die EU gingen inzwischen nach Deutschland, vor allem Erdölprodukte (66%).
Das schwierige Verhältnis zu Russland
Ziel der Außen- und Wirtschaftspolitik sei, die Abhängigkeit von Russland zu verringern, das Hauptproblem sei die völlige Abhängigkeit von russischem Öl und Gas. Durch die ständige Anhebung der Preise sah sich Belarus gezwungen, eine seiner Erdölraffinerien an Russland zu verkaufen. Als es den Verkauf der zweiten Anlage ablehnte, wurden die Lieferungen unterbrochen, mit den bekannten Folgen für die Ölversorgung Westeuropas. Um die Transitgebühren einzusparen, würden jetzt mit Nachdruck die Pipelines durch die Ostsee (Northstream) und durch das Schwarze Meer (Southstream) gebaut. Damit verlören die Ukraine und Belarus wichtige Einkünfte und würden von der Ölversorgung abgehängt. Europa sei dadurch jedoch kaum weniger abhängig von russischem Öl, meinte der Botschafter.
Abschließend erläuterte der Referent die besondere staatliche Bindung an den mächtigen Nachbarn im Osten: Beide Staaten sind wegen der gemeinsamen jüngeren Geschichte in einer „Union“ und Zollunion miteinander verbunden. Dies bedeutet freien Waren- und Personenverkehr, freies Studium und Anerkennung der Rentenansprüche in beiden Ländern. Natürlich sei das Verlangen des großen Bruders auf Einverleibung nach Russland groß, dem man aber nicht nachgeben werde.
Nicht die letzten Stalinisten Europas
Auf das politische System angesprochen, erläuterte der Botschafter, dass die OSZE zur Beobachtung aller Wahlen eingeladen werde und sich im Rahmen der Vereinbarungen frei bewegen könne. Bei den bevorstehenden Präsidentschafts-Wahlen würden sich 17 Kandidaten darum bewerben, Nachfolger des amtierenden Präsidenten Alexandr Lukaschenko zu werden, würden dies aber wegen der Zerstrittenheit ihrer Anhänger, vor allem aber der Angst der Bevölkerung vor zu schneller Liberalisierung der Wirtschaft wohl erneut nicht schaffen.
Abschließend stellte der Botschafter fest, in Belarus herrsche sozialer Frieden, die Schere zwischen Arm und Reich sei im Gegensatz zu Russland gering, es gebe keine ethnischen Konflikte, die Grenzen seien laut Aussage der Vereinten Nationen die weltweit sichersten, da Schmuggel, Drogen -und Menschenhandel sowie die Organisierte Kriminalität mit Nachdruck bekämpft würden. Das Ziel der Außenpolitik, trotz der Einbindung in die so genannte “GUS“ sei eine weitere Annäherung an Westeuropa. Mit den Worten: „Ich hoffe, dass es mir gelungen ist, die weitgehend verbreiteten negativen Vorurteile über meine Heimat ein wenig abzubauen“, beendete Botschafter Giro seinen Vortrag, dem eine angeregte Diskussion folgte. Langer Beifall dankte ihm für seine engagierten, offenen Worte.
Am zweiten Tag seines Besuchs zeigte Ulrich Feldmann, unterstützt durch Herrn Markert von der Staatsbad GmbH, den Gästen bei herrlichem Wetter die Kuranlagen.
Begrüßung vor den Kollonaden durch Herrn Markert von der Staatsbad GmbH
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Zum Abschluss hieß Oberbürgermeister Kay Blankenburg die ausländischen Besucher zu einem Gespräch im Rathaus willkommen, bei dem auch über mögliche Hilfe für strahlengeschädigte Kinder und gemeinsame kulturelle Projekte gesprochen wurde.
Rathausempfang mit Oberbürgermeister Kay Blankenburg
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Text: Ulrich Feldmann, Stellv. Sektionsleiter Bad Kissingen
Fotos: GfW-Bad Kissingen